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Chronik

 berichtet am 26. April 1983

Gemeindenahe Psychiatrie

Abkehr von der "Verwahr-Anstalt" - wie?

Plädoyer für eine reformierte Psychiatrie - Eine deutsch-italienische Arbeitstagung

"Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder keine." Dieser Satz des bekannten Sozialpsychiaters Klaus Dörner war keine Feststellung, sondern eine Forderung. Er stand am Anfang einer Reformbewegung, die die herkömmliche Praxis im Umgang mit psychisch kranken Mitmenschen grundsätzlich in Frage stellte. Ihnen helfen, das sollte nicht länger heißen: Sie bequem aussondern und einer verwahrenden Irrenpflege überstellen. Sie, die aus der Gesellschaft kamen, sollten auch in ihr behandelt werden. Das war Anfang der siebziger Jahre. Inzwischen versuchen eine ganze Reihe von Einrichtungen - zumeist private Initiativen - diesen Einspruch einzulösen. Auch in Freiburg. Doch die "Verwahr-Anstalt" alten Musters ist geblieben. Anders in Italien, dem Musterland einer reformierten Psychiatrie. Was dort praktiziert wird und was hierzulande getan werden könnte, war am Wochenende Gegenstand einer deutsch-italienischen Arbeitstagung in der Evangelischen Fachhochschule. Stichwort und Thema: !Gemeindenahe Psychiatrie."

Die Teilnehmer der Tagung: Auf italienischer Seite Mitarbeiter psychiatrischer Einrichtungen aus Reggio Emilia und Mailand. Aus Freiburg und Umgebung: Psychiater, Pädagogen und Sozialarbeiter der Universitätskliniken, des Diakonischen Werks, der Freiburger Hilfsgemeinschaft, des REHA-Vereins und des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Emmendingen. Veranstalter war der Arbeitskreis gemeindenahe Psychiatrie an der Fachhochschule in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk, der Arbeitsgemeinschaft SPAK und dem Italienischen Konsulat.
Die italienischen Gäste sind in Freiburg nicht unbekannt. Vor zweieinhalb Jahren fand in Freiburg zum selben Thema schon einmal eine Tagung statt. Eine Gruppe von Studenten der Fachhochschule besuchte zudem im vergangenen Jahr die Italiener vor Ort. Doch geblieben ist das Interesse am italienischen Modell einer "demokratischen Psychiatrie", ein Modell, das vielen bis heute als vorbildlich gilt.
In der Tat: Was in Italien, und hier vor allem in Reggio Emilia, auf dem Gebiet der Behandlung von psychisch Kranken getan wird, ist anders und neu. Die Auflösung psychiatrischer (Groß-)Anstalten ist in vollem Gang; an ihre Stelle sind eine Vielzahl kleinerer, dezentraler Behandlungseinrichtungen und ambulanter Hilfsdienste getreten.
Nicht zum Nachteil der Patienten, wie man auf Seiten der Gäste nachdrücklich betonte. Im Gegenteil. Durch die Verlagerung der therapeutischen Arbeit "vor Ort", in die Kommunen und Stadtteile, sei man dem selbstgesteckten Ziel, den psychisch kranken Menschen von Aussonderung zu bewahren und ihm ein Leben innerhalb der Gesellschaft zu ermöglichen, einen großen Schritt näher gekommen. "Wahnsinn", davon ist man in Reggio Emilia überzeugt, "ist nichts, was man aussondern muss"; selbst wenn diese Haltung noch immer auf manches Unverständnis trifft.
Und die Italiener können Erfolge vorweisen: Seit es die neuen Einrichtung gibt, ist die Zahl der Einweisungen von Kranken in Kliniken über ein Drittel zurückgegangen. Mehr noch: Wenn die Patienten in ihrer gewohnten sozialen Umgebung behandelt werden und ihre soziale Lage auch therapeutisch berücksichtigt wird, dann verkürzen sich auch - so weiß man - die "Krisenzeiten" drastisch. Eine "Zerstörung der Menschenwürde" werde so nach Kräften vermieden.
Reggio Emilia - ein Modell in der Praxis. Ein Modell auch, das für Reformen hierzulande als Vorbild dienen kann. Der Medizin-Soziologe Zimmermann: "Zwei Extreme stehen einander diametral gegenüber." So wünschenswert Reformen seien, der Weg zu Veränderungen sei schwierig.
Man schwankte zwischen Zweifel und Zuversicht. Dass Psychiatrie "sehr viel mehr beinhalten müsste" (Psychiater Frick, Uni-Nervenklinik) als einen bloß technisch-medizinischen Umgang mit ihr - darin war man sich einig. Zugleich aber wurde das Fehlen institutioneller Möglichkeiten beklagt. Noch immer sei Psychiatrie hier "ganz auf das Krankenhaus zugeschnitten". Alternative Einrichtungen - so in Freiburg etwa der REHA-Verein oder die Hilfsgemeinschaft - seien zwar vorhanden, jedoch ohne in das institutionelle Gefüge des öffentlichen Gesundheitswesens fest eingegliedert zu sein.

Die alternativen Einrichtungen stärken (Frick) oder das herkömmliche Krankenhaus "von innen heraus" verändern (Medizin-Soziologe Zimmermann, Universitäts-Kinderklinik) - das war denn auch die Hauptfrage. Ziel müsse im einen wie im anderen Fall sein, die "viel zu große Kluft" zwischen alten und neuen Einrichtungen, zwischen "drinnen und draußen", zwischen den gewohnten Lebenszusammenhängen der Kranken und therapeutischer Stationierung zu schließen.
Man sollte, so riet Vereno Galvagni, Leiter der Reggio Emilia, den Freiburger Kollegen, "die alten Kliniken auflösen und zugleich neue alternative Strukturen schaffen". Freilich, in Italien gilt seit über vier Jahren ein Gesetz, das die schrittweise Auflösung psychiatrischer (Groß-) Anstalten ausdrücklich anordnet und so den Auf- und Ausbau alternativer Einrichtungen wesentlich erleichterte. Hier dagegen, so Ida Schulte vom REHA-Verein, fehle es bislang an politischer Unterstützung für eine "demokratische Psychiatrie".
jos

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