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Chronik

 berichtet am 20. März 1985

Kritik an "Therapeutisierung der Arbeitslosigkeit"
Wenn Therapie an ihre Grenzen stößt
Die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft strebt ein stärkeres Miteinander von Hilfen an.

Nach dreieinhalb Jahren beginnt die Saat nun aufzugehen: Der Versuch, über eine psychosoziale Arbeitsgemeinschaft eine Zusammenarbeit von Freiburger Beratungsstellen und sozialtherapeutischen Einrichtungen anzuregen, trägt jetzt erste Früchte. Und das scheint heute auch notwendiger denn je zu sein. Die Arbeitslosigkeit nämlich sorgt dafür, dass Beratern und therapeutischen Begleitern die Arbeit nicht ausgeht.

Ein Grund mehr für die Mitglieder der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG), sich miteinander gegen zu beobachtende Entwicklungen stark zu machen. So stehen sie heute zum Beispiel vor dem Problem, wie es Norbert Klein-Alstedde vom Reha-Verein zum Aufbau einer sozialen Psychiatrie beschreibt: "Arbeitslosigkeit wird zur Zeit regelrecht therapeutisiert. Und damit wird ein wirtschaftliches Problem durch Pädagogik und Therapie verschleiert."
Auch Mitarbeiter anderer Freiburger Einrichtungen bestätigen diese Beobachtung. "Die Arbeitslosigkeit", weiß Werner Kiefer von der PSAG, "ist mittlerweile eine der wesentlichen Ursachen für seelische Erkrankungen." Und nicht nur das: Zugleich zeigte sie der Therapie ihre Grenzen auf. Denn was nutzt den Menschen mit seelischen Schwierigkeiten die beste Behandlung, wenn sie anschließend wieder einer krankmachenden Arbeitslosigkeit ausgesetzt werden? "Die PSAG kommt deshalb nicht um politische Forderungen herum", meint Werner Kiefer; "und um ihnen größeres Gewicht zu geben, ist eine Zusammenarbeit von Beratungsstellen und Therapieangeboten unbedingt erforderlich."
Eine dieser Forderungen heißt: Mehr Arbeitsplätze und Lehrstellen statt Therapien gegen Depressionen. Zurzeit läuft es jedoch eher umgekehrt. So unterstützt das Sozialamt zwar viele psychisch Erkrankte, die zu Sozialhilfeempfängern wurden, ein halbes Jahr lang mit therapeutisch begleiteten Eingliederungshilfen. Doch danach werden die Menschen wieder "Fälle" fürs Arbeitsamt und dessen Arbeitslosenhilfe, ehe sie dann irgendwann erneut auf Sozialhilfe angewiesen sind.
"Es ist ein Fass ohne Boden", ärgert sich Norbert Klein-Alstedde, "wenn immer nur an den Symptomen herumkuriert wird." Dabei wäre seiner Meinung nach die Lösung verhältnismäßig einfach: Da das Sozialamt ohnehin Sozialhilfe zahlen muss, könnte mit einem Teil davon auch einen Arbeitsplatz subventioniert werden. "Es fördert ein anderes Selbstbewusstsein, wenn ein bislang Arbeitsloser monatlich Lohn statt der Sozialhilfe bekommt", weiß Klein-Alstedde aus seiner täglichen Erfahrung.
Als notwendig erachten die PSAG-Mitglieder ein solches Umdenken vor allem im Blick auf die immer jünger werdenden Männer und Frauen, die bei den Beratungsstellen und Therapieanbietern Hilfe suchen. So haben heute viele junge Menschen die Hoffnung auf eine berufliche Zukunft schon aufgegeben. Andere macht die Angst vor drohender Arbeitslosigkeit krank, wie Inge Tritz von der Arbeitsgemeinschaft Jugendberatung beobachtet hat. Und wieder andere machen nach den Erfahrungen Thea Stemmers von der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universitätsklinik inhumane Arbeitsbedingungen seelisch krank.
Um so wichtiger erscheint der PSAG die von Anfang an angestrebte Zusammenarbeit der entsprechenden Einrichtungen, die über die persönliche Zusammenarbeit einzelner Mitarbeiter in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft während der vergangenen dreieinhalb Jahre begonnen hat. Fast ein Dutzend solcher Einrichtungen stellt sich deshalb am kommenden Samstag zum ersten Mal in einer konzertierten Aktion vor. "Wir wollen an diesem Tag zeigen, was es an Hilfe in Freiburg gibt", erklärt Werner Kiefer, "Berührungsängste abbauen und Möglichkeiten schaffen, Kontakte zu knüpfen." Vor allem aber soll der 23. März der selbstverständlich gewordenen Trennung zwischen Gesunden und Kranken entgegenwirken - jener Stigmatisierung, die das Lebenskonzept eines Menschen prägt, der einmal das Psychiatrische Landeskrankenhaus in Emmendingen als Adresse angeben musste...
gmk

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